Zitate von Christian Morgenstern
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Man soll sich seiner Krankheiten schämen und freuen; denn sie sind nichts anderes als auszutragende Verschuldung.
Jede Krankheit hat ihren besonderen Sinn, denn jede Krankheit ist eine Reinigung; man muß nur herausbekommen, wovon. – Es gibt darüber sichere Aufschlüsse; aber die Menschen ziehen es vor, über hunderte und tausende fremder Angelegenheiten zu lesen und zu denken, statt über ihre eigenen.
Mir genügt zur Zeit das Schwatzen der Seevögel, das leise Sich-Wiegen des stachlichen Strandhafers, ein wenig durch die Finger rinnender Sand und die graublaugrüne Fläche vor mir mit ihrer seltsamen Unbedingtheit.
Wie süss ist alles erste Kennenlernen. Du lebst so lange nur als Du entdeckst.
Die meisten wissen gar nicht, was sie für ein Tempo haben könnten, wenn sie sich nur einmal den Schlaf aus den Augen rieben.
Den Wolken wird vielleicht einstmals eine besondere Verehrung gezollt werden; als der einzigen sichtbaren Schranke, die den Menschen vom unendlichen Raum trennt, als der gnädige Vorhang vor der offenen vierten Wand unserer Erdenbühne.
Zwischen Weinen und Lachen schwingt die Schaukel des Lebens, zwischen Weinen und Lachen fliegt in ihr der Mensch.
Die Sterne lauter ganze Noten. Der Himmel die Partitur. Der Mensch das Instrument.
Nimm dem Leben die harte Tragik, das tiefe Bewußtsein, daß alles vergänglich ist, und du nimmst ihm die Schönheit.
Gott ist die Überwältigung unseres Inneren durch die Unendlichkeit. Die Kapitulation des menschlichen Begriffsvermögens vor der Welt.
Die kleinen Schwächen legt man am schwersten ab, so wie man der Moskitos schwerer Herr wird als des Skorpions oder der Schlange. Und so ist es recht eigentlich das Kleine, was den Fortschritt der Menschheit aufhält: Gedankenlosigkeit, Unaufmerksamkeit, Trägheit, Lauheit.
Es ist mit der Weltenuhr wie mit der des Zimmers. Am Tage sieht man sie wohl, aber hört sie fast gar nicht. Des Nachts aber hört man sie gehen wie ein großes Herz.
In dem Maße, wie der Wille und die Fähigkeit zur Selbstkritik steigen, hebt sich auch das Niveau der Kritik am anderen.
Richterphantasie Vor dem irdischen Gericht Gingst du deiner Wege. Doch es wartet, Bösewicht, Droben mein Kollege.
Ich will gern alles gutzumachen suchen, was ich und andere mit mir schlecht gemacht haben, aber nur noch in mir, in mir selbst. Alles andere ist Sentimentalität und Pfuscherei.
Man will die deutsche Volksseele erstarken sehen, indem sie sich mehr abschließen und begrenzen soll, und vergißt, daß gerade das Unbegrenztseinwollen, das über engen Nationalitätsschranken stehen wollen ihre Haupteigentümlichkeit ist.
Für mich gibt es nur ein Mittel, um die Achtung vor mir selbst nicht einzubüßen: Fortwährende Kritik.
Immer bewußter sich konzentrieren lernen. Alles Flatternde und Flackernde in mir überwinden.
Ich möchte glücklich sein, um glücklich machen zu können. Kein Glück ohne Gast.
Wir sind geborene Polizisten. Was ist Klatsch anderes als die Unterhaltung von Polizisten ohne Exekutivgewalt.
Die Luftschifffahrt wird dem religiösen Genie der Menschheit neue Nahrung geben. Zu den großen Beförderern kosmischer Stimmungen: Wald, Meer und Wüste, wird nun noch der Luftraum kommen.
Mein einziges Gebet ist das um Vertiefung. Durch sie allein kann ich wieder zu Gott gelangen. Vertiefung! Vertiefung!
Es ist etwas Jämmerliches um einen Lyriker ohne Liebe. Was helfen da Mai und Nachtigallen und Mondscheinnächte. Trauriger Zustand.
Takt erfordert vor allem Phantasie. Man muss viele Möglichkeiten der fremden Seele überschauen, viele Empfangsmöglichkeiten, und danach, was man geben kann, einrichten.
Es gibt keine Seele, die nicht ihr Wattenmeer hätte, in dem zu Zeiten der Ebbe jedermann spazieren gehen kann.
Gute Erziehung – ein zweischneidiges Schwert. Mancher wird nie ein wirklicher Mensch, ein Mensch von Umfang, infolge seiner guten Erziehung.
Und der ist nicht weise, der sich dünket, daß er wisse; sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit inne geworden und durch die Sache des Dünkels genesen ist.
Wie vieles wird zu jeder Frist verhütet – bedachten wir schon einmal dies zu Ende? Wie viel geschieht nicht, was geschehen könnte!
Man sollte nie ohne Abschied voneinander gehen. Denn weiß man, ob man sich – als diese Persönlichkeiten – wieder begegnet?
Ich habe oft bemerkt, daß wir uns durch allzuvieles Symbolisieren die Sprache für die Wirklichkeit untüchtig machen.
Phantasie ist ein Göttergeschenk, aber Mangel an Phantasie auch. Ich behaupte, ohne diesen Mangel würde die Menschheit den Mut zum Weiterexistieren längst verloren haben.
Was für ein träges, ungeistiges Tier ist doch noch der Mensch und wie sehr bedarf es großer und größter Schrecken und Trübsale, damit er nicht immer wieder in Schlaf versinke!
Hinter die Oberfläche der Menschen sehen, hinter das „Persönliche“, das Leben selbst in ihnen lieben.
Daß er so wenig weiß und kann: das ist es, was den Edlen schmerzt, indes der eitle Dutzendmann zu jedem Urteil sich beherzt.
Ich frage mich oft, welches der wünschenswertere Typus von beiden ist: der mehr geistige Mensch, für den es nichts Abstoßenderes gibt, als das Uninteressante, oder der mehr gemütliche, für den es schlechtweg nur Anziehendes und Abstoßendes gibt.
Man sollte von Zeit zu Zeit von sich zurücktreten wie ein Maler von seinem Bilde.
Schriftstellerei ist heute vielfach nicht wichtiger zu nehmen, als daß, sagen wir, heute jedermann Kakao trinken kann, während es früher nur die Reichen konnten.
Es ist Nacht, und mein Herz kommt zu dir, hält’s nicht aus, hält’s nicht aus mehr bei mir.