Zitate von Egon Friedell
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Die große Majorität der Menschheit würde der trostlosesten Langeweile verfallen, wenn sie nicht durch tausend Zwangsmaßregeln von sich selbst und ihrer inneren Leere abgelenkt würde.

Rechtsanwälte: Die Welt hat einen großen Bedarf an Leuten, die Unrecht für Recht ausgeben können.

Die Aufgabe des großen Philosophen besteht nicht darin, korrekt zu schließen, sondern die Stimme seiner Zeit zu sein, das Weltgefühl seiner Epoche in ein System zu bringen.

Daß man einem Wasser nicht auf den Grund blicken kann, beweist noch nicht, daß es tief ist.

Das Wort Ästhet gehört zu jenen, die, je nach dem man Sie ausspricht, eine Schmeichelei oder eine Beleidigung bedeuten können.

Je polychromer die Ideale einer Zeit sind, je dehnbarer ihre Werte, desto vergeistigter erscheint sie uns.

Tatsächlich ist der Darwinismus eine dialektische Konstruktion, ja eine Art Religion mit sehr ausgebildeter Mythologie und Dogmatik.

Es ist eine psychologische Tatsache, daß Toleranz dem Durchschnitt der Menschheit ganz wesensfeindlich ist.

Wir kennen die wahren Kräfte nicht, die unsere Entwicklung geheimnisvoll vorwärtstreiben; wir können einen tiefen Zusammenhang nur ahnen, niemals lückenlos beschreiben.

Der Alkohol ist ein Gift. Das haben die Physiologen bewiesen. Aber gegen den Alkohol ist damit gar nichts bewiesen, denn ein Gift kann immer noch eine Medizin sein.

Es liegt nicht in unserer Macht, Irrtümer wie Kleider anzulegen, weil wir lieber andere tragen möchten; wir finden erst die Kraft, Irrtümer loszuwerden, wenn wir sie nicht mehr verwerten können, weil sie wirklich völlig abgenutzt sind.

Alles vermag die Menschheit zu verzeihen: Torheiten, Lügen, Laster, ja sogar Verbrechen, nur eines nicht: die Taktlosigkeit.

Das Leben ist für den Alltagsmenschen ein wissenschaftliches Problem, für das Talent ein künstlerisches und für das Genie ein religiöses.

Die meisten unserer heutigen Wahrheiten haben so kurze Beine, daß sie gerade so gut Lügen sein könnten.

Eine Welt ohne Gott ist nicht nur die unsittlichste, sondern auch die unkomfortabelste, die sich ersinnen läßt.

Die beiden großen Mächte, die uns zwingen, unser Dasein auch unter widrigen Umständen fortzusetzen, sind Hoffnung und Neugierde.

Altruismus aus Klugheit, Idealismus aus Eigennutz: das ist vielleicht die Formel für eine kommende Ethik.

Ende des achtzehnten Jahrhunderts hielten die meisten Menschen Vulpius, den Verfasser des Rinaldo Rinaldini, für einen größeren Dichter als seinen Schwager Goethe.

Lieber Leser, wenn schon ich mir so oft widerspreche, dann ist es wirklich gänzlich überflüssig, daß auch du mir noch widersprichst.

Nach welchen Gesetzen die Natur wirklich verfährt, werden wir selbstverständlich niemals erfahren. Darwin hat nicht mehr Recht als Moses; nicht die Natur ist darwinistisch, aber der heutige Mensch ist es.

Es ist ganz merkwürdig, wie stark die Menschen im Verfehlen des Richtigen und des Nächstliegenden sind.

Der Fortschritt der Menschheit besteht in der Zunahme ihres problematischen Charakters.

Was das Gymnasium wert ist, sieht man weniger an denen, die es besucht haben, als an denen, die es nicht besucht haben.

Eine jede Revolution hat ihre Geburtsstunde in dem Augenblick, wo irgendein öffentliches Unrecht in irgendeiner menschlichen Seele sich in Erkenntnis verwandelt.

Nichts ist im Menschen, auch im scheinbar ‚aufgeklärtesten‘, fester verwurzelt als der Glaube an irgendwelche Autoritäten.

Wir können die Welt immer nur unvollständig sehen; sie mit Willen unvollständig zu sehen, macht den künstlerischen Aspekt.

Als man Michelangelo aufmerksam machte, daß seine Statue des Papstes nicht ähnlich sei, sagte er: Wem wird das in zehn Jahrhunderten auffallen?

Ich glaube, daß es die Aufgabe jedes Gebildeten wäre, auf möglichst vielen Gebieten bis zu dem Punkt vorzudringen, auf dem er seine positiven Kenntnisse fast ausnahmslos preisgeben muß.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß Träume oft viel stärker auf uns wirken als wirkliche Erlebnisse. Woher kommt das? Weil das Erlebnis immer eine viel geringere Realität hat als die Phantasie.

Aller Fortschritt zersetzt, trennt, löst auf, zersplittert kompakte Solidaritäten, zerreißt althergebrachte Zusammenhänge, zerstört, sprengt in die Luft. Aller Fortschritt hat das Thema, das Dasein zu irrationalisieren, es widerspruchsvoller und fragwürdiger, tiefer und bodenloser zu machen.

Jede Wahrheit tritt zuerst als Irrlehre in die Welt, denn die Welt ist immer von gestern.