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Es gibt Güter, die wir leidenschaftlich begehren und deren bloße Vorstellung uns schon hinreißt und entzückt; haben wir das Glück, sie zu erlangen, so nehmen wir sie gelassener auf, als wir gedacht hätten; wir erfreuen uns kaum an ihnen und verlangen sogleich nach größeren.
Jean de La BruyèreSchönen Mädchen stößt es oft zu, daß sie ihren schlecht behandelten Liebhabern durch häßliche oder alte oder unwürdige Ehegatten Genugtuung geben.
Jean de La BruyèreEs ist ein großes Unglück, dass Menschen weder genug Geist haben, um zu reden, noch genug Urteilskraft, um zu schweigen.
Jean de La BruyèreDie Kinder kennen weder Vergangenheit noch Zukunft, und - was uns Erwachsenen kaum passieren kann - sie genießen die Gegenwart.
Jean de La BruyèreWissen denn die Starkgeister, dass man sie nur aus Ironie so nennt? Welche größere Schwäche kann es geben, als darüber in Ungewißheit zu sein, was der Urgrund und das Ziel seines Daseins, seines Lebens, seiner Sinne, seines Erkennens ist?
Jean de La BruyèreJede Stunde ist einmalig an sich wie in Rücksicht auf uns; ist sie verflossen, so ist sie auf immer dahin.
Jean de La BruyèreEntbehren müssen, was man liebt, ist noch ein Glück im Vergleich zu dem Zwang, mit dem zu leben, was man haßt.
Jean de La BruyèreSeinen Feinden etwas nachsagen, was nicht wahr ist, und lügen, um sie in Verruf zu bringen, heißt, sich selber Unrecht tun und ihnen ein großes Übergewicht verschaffen.
Jean de La BruyèreEs gibt ein Land, wo die Freuden sichtbar, aber falsch sind, und der Kummer verborgen, aber echt.
Jean de La BruyèreAuch der vornehmste Geist bleibt sich nicht gleich; er ist dem Wachsen und Abnehmen unterworfen.
Jean de La BruyèreDas peinliche Verhör ist eine bewundernswerte Erfindung, mit der vollkommensten Gewißheit, einen Unschuldigen, der von schwachem Naturell ist, ins Verderben zu bringen, und einen kräftig angelegten Schuldigen zu retten.
Jean de La BruyèreMan lebt nicht lange genug, um aus seinen Fehlern zu lernen. Sie begleiten uns das ganze Leben hindurch; und nach allem Irren bleibt uns schließlich nur übrig, gebessert zu sterben.
Jean de La BruyèreNur wer Gutes tut, verdiente unseren Neid, wenn uns nicht eine bessere Wahl bliebe: noch besser zu handeln; das ist eine süße Rache an denen, die uns zu solcher Eifersucht reizen.
Jean de La BruyèreDas Köstlichste auf der Welt ist der Umgang mit einer schönen Frau, die zugleich die Eigenschaften eines ehrenwerten Mannes besitzt.
Jean de La BruyèreBei der Gerechtigkeit, die wir anderen schuldig sind, ist es wesentlich, daß wir sie ohne Verzug ausüben; wenn man darauf warten läßt, so ist dies schon Ungerechtigkeit.
Jean de La BruyèreDaß man Menschen, die sich durch Ehrlichkeit, Uneigennützigkeit und Redlichkeit auszeichnen, so überschwänglich preist, gereicht weniger ihnen zum Lob als dem Menschengeschlecht zur Schande.
Jean de La BruyèreDer gleiche kritische Sinn, der bewirkt, daß wir etwas Gutes schreiben, läßt uns auch befürchten, es sei nicht gut genug, um lesenswert zu sein.
Jean de La BruyèreDas Vorurteil des Volkes zugunsten der Großen ist so blind und die Eingenommenheit für ihre Gebärde, ihre Miene, den Ton in ihrer Stimme und ihr ganzes Benehmen so allgemein, daß es bis zur Vergötterung käme, wenn es ihnen auch noch einfiele, gut zu sein.
Jean de La BruyèreEine schwache Frau ist die, die sich einen Fehltritt, den man ihr nachsagt, selbst vorwirft; deren Herz mit der Vernunft im Streit liegt; die von der Liebe genesen möchte, aber nie genesen wird oder erst sehr spät.
Jean de La BruyèreSo mancher, der draußen in der Welt durch große Talente bekannt, angesehen und allgemein beliebt ist, hat seinen Angehörigen keine Achtung abnötigen können und gilt als ein unbedeutender Mensch im eigenen Haus.
Jean de La BruyèreDie Anmut ist dem Belieben unterworfen: Die Schönheit ist gültiger und weniger abhängig von Geschmack und Meinung.
Jean de La BruyèreKein Weg ist zu lang für den, welcher langsam und ohne sich zu beeilen dahin schreitet; keine Vorteile liegen zu fern für den, der sich mit Geduld rüstet.
Jean de La BruyèreEin wesentlicher Umstand bei der Gerechtigkeit, die man anderen schuldet, ist, daß man sie ihnen sogleich und ohne Aufschub widerfahren läßt.
Jean de La BruyèreDie Erfahrung lehrt, daß Weichlichkeit und Nachsicht gegen sich selbst und Hartherzigkeit gegen andere dasselbe Laster sind.
Jean de La BruyèreDie Vernunft gleich der Wahrheit: es gibt nur eine. Nur ein Weg führt zu ihr hin, auf ungezählten kann man sie verfehlen.
Jean de La BruyèreWenn es so gewöhnlich ist, daß wir uns von seltenen Dingen lebhaft ergriffen fühlen, warum nicht von der Tugend?
Jean de La BruyèreManche Menschen bringen ein langes Leben damit hin, sich gegen die einen zu wehren und den andern zu schaden, und sie sterben alt und verbraucht, nachdem sie ebensoviel Übel angerichtet wie ausgestanden haben.
Jean de La BruyèreEin Mann hütet das Geheimnis eines anderen mehr als sein eigenes; eine Frau weiß ihr eigenes besser zu wahren, als ein fremdes.
Jean de La BruyèreEs kostet die Frauen wenig, zu sagen, was sie nicht fühlen, und die Männer noch weniger, zu sagen, was sie fühlen.
Jean de La BruyèreEs scheint mir, daß man von Ort und Landschaft abhängt in Stimmung, Leidenschaft, Geschmack, Gefühl und Geist.
Jean de La BruyèreGeistreiche Miene bei Männern entspricht ebenmäßigen Zügen bei Frauen: ein Grad von Vollkommenheit, den die Nichtssagendsten erstreben dürfen.
Jean de La BruyèreWie der Schatten die Gestalten auf einem Bild, so bringt Bescheidenheit die Verdienste eines Menschen besser zur Geltung.
Jean de La BruyèreLieben ist eine Schwäche, davon genesen ist auch eine Schwäche. Man tröstet sich und ist genesen: unser Herz ist nicht reich genug, immer zu weinen und immerfort zu lieben.
Jean de La BruyèreEs gibt eine falsche Bescheidenheit, die Eitelkeit ist; einen falschen Ruhm, der Belanglosigkeit ist, eine falsche Größe, die Kleinheit ist, eine falsche Tugend, die Heuchelei ist und eine falsche Sittlichkeit, die Prüderie ist.
Jean de La BruyèreEin für die Arbeit und Beschwerde abgehärteter Mensch ist für andere nur infolge außergewöhnlicher Vernunft nachsichtig.
Jean de La BruyèreDie feine Lebensart schließt nicht immer Güte, Billigkeit, Gefälligkeit, Dankbarkeit in sich; aber sie verleiht wenigstens den Anschein davon und stellt den Menschen äußerlich so dar, wie er innerlich sein sollte.
Jean de La BruyèreEin hochmütiges und aufgeblasenes Wesen trägt in der Gesellschaft gerade das Gegenteil der erwarteten Achtung ein.
Jean de La BruyèreLob ist die einzige Kraft, die uns zu edlen Handlungen antreibt und Ausdauer dafür verleiht.
Jean de La BruyèreIn ihrem Urteil über das Handeln, gleichgültig ob der Großen oder der Geringen, lassen sich die Menschen vom Gelingen einnehmen, bezaubern und hinreißen; wenig fehlt, daß ein geglücktes Verbrechen ebenso gepriesen werde wie die Tugend selbst.
Jean de La Bruyère