Zitate von Anselm Vogt
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Fortschritt: Viele Fortschrittliche kommen nicht voran, weil sie ständig um den Fortschritt kreisen.

Manch banales Gespräch nennt man Gedankenaustausch, obwohl es bestenfalls die Austauschbarkeit der Gedanken bezeugt.

Der Hypochonder flüchtete in den Schmerz, um der unerträglichen Leere der Schmerzlosigkeit zu entgehen.

Arbeit: Das Leiden an der Arbeit wird nur noch durch das Leiden an der Arbeitslosigkeit übertroffen.

Gelassenheit: Gemütsruhe, die nicht der anästhesierenden Wirkung existenzieller Desensibilisierung, sondern einer Gefühlsbeherrschung durch Vernunft geschuldet ist.

Im Zeitalter der Aufklärung nannte man die religions- und traditionskritischen Geister Freidenker, heute kann man bei den Traditionskritikern anstelle des Freidenkens häufig eine Freiheit vom Denken konstatieren.

Manche verwechseln das Bedürfnis nach Gesellschaft mit Liebe. Dies erklärt die Austauschbarkeit der Partner.

Erst überschritten die Enttabuisierer sämtliche Grenzen, um sich dann über mangelnde Grenzerfahrungen zu beklagen.

Understatement als Hochstapelei: Wenn einer sein bescheidenes Licht so lange unter den Scheffel stellt, bis man dessen geringe Leuchtkraft der Wirkung des Scheffels zuschreibt.

Die technokratischen Bildungsreformer haben durch sogenannte Lernstandserhebungen den Stillstand der Bildung in Deutschland besiegelt.

In Deutschland gibt es gute Lebensversicherungen, aber noch bessere Versicherungen gegen das Leben.

Manche wundern sich, daß die Nachrichten über Untaten Wiederholungstäter provozieren. Doch darin zeigt sich der eigentliche Sinn des Wortes „Nachrichten“, demzufolge sich manche da nach richten.

Aktualität der Zahlenmystik: Der Identitätsverlust war früher ein philosophisches Problem, heute reduziert sich das Identitätsproblem häufig auf den Verlust der Pinnummer.

„Der Sex ist tot“, behauptete der Sexualforscher, „der Tod ist sexy“, frohlockte der Nekrophile.

Lebenskräfte: Manche gehen so sparsam mit ihren Lebenskräften um, daß sie schließlich völlig unverbraucht sterben.

Armut. Dem Armen fehlen die Befriedigungsmöglichkeiten für seine Wünsche, während dem Reichen die Wünsche für seine Befriedigungsmöglichkeiten fehlen.

Es gibt Seelenexhibitionisten, die Magenspiegelungen lieben, da sie den Magen für den Spiegel der Seele halten.

Durchschnitt: Manche nehmen selbst den Wahnsinn in Kauf, um der Durchschnittlichkeit zu entgehen.

Überleben: Eine der Errungenschaften der modernen Hightechmedizin ist die Vergrößerung der Chance, das Stadium der personalen Existenz zu überleben.

Wenn Kutur tiefschürfend ist und unter die Oberfläche geht, handelt es sich oft um Subkultur.

In der Liebe gibt es drei Typen: Der Erste möchte besitzen, der Zweite besessen werden, der Dritte ist vom Besitzenwollen besessen.

Der vollendete Hedonismus ist der Tod der Lust. Nach der Tötung der Lust bleibt häufig nur noch die Lust am Tod.

Der Individualismus macht aus der Not der Zufälligkeit unserer individuellen Existenz die Tugend der Unverwechselbarkeit.

Fundamentalismus: Weltanschauliche Orientierung, die Gedanken vom Grunde her auf bauen will und dabei alles niederreißt.

„Unser Ich ist eine Illusion“, sagte der Gehirnforscher. „Dann ist diese Behauptung selbst das Hirngespinst einer Illusion, nämlich Deines nicht existierenden Ichs“, entgegnete der Philosoph.

Manche Vernissage dient weniger der Darstellung von Kunst als der Kunst der Selbstdarstellung.

Die Verdrängung der Metaphysik führte zur Identifikation der Welt mit ihrer äußeren Erscheinung. Seitdem verkommt Weltverbesserung zur Kosmetik.

Kant gilt zu Unrecht als Urheber jener Gesinnungsechtheit, aus der jede Rüpelei heute das Gütesiegel der Authentizität herleitet.

Die Liebe wurde in der Moderne zur Ersatzreligion, die Biochemie zur Religionskritik, indem sie die Liebe als Wirkung gehirneigener Drogen entlarvte.

Manchmal gewinnt man Zeit, indem man sie verstreichen läßt. Dies unterscheidet das geschickte Timing vom Zaudern.

Es gehört Lebenskunst dazu, seine Arbeit als Spaß zu erfahren und den Spaß nicht zur Arbeit geraten zu lassen.

Beziehung: Die meist angestrebte Verschmelzung zu einer Einheit ist nicht die Vollendung, sondern das Ende jeder Beziehung, denn eine Beziehung setzt die Existenz zweier unabhängiger Personen voraus.

Auch die Gottesvorstellung wurde so lange entmythologisiert, bis nur noch eine blutleere Abstraktion übrig blieb, in der wir uns unmöglich geborgen fühlen können.

Zerstreutheit: Sind nicht in Wahrheit die sogenannten Lebenstüchtigen zerstreut, deren Geist sich in der Fülle der Banalitäten des Alltags verlieren kann, weil sie nichts Wesentliches beschäftigt?