Zitate von Rainer Kohlmayer
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Norden und Süden. – Offensichtlich ist auch der Globus unterhalb der Gürtellinie besonders empfindlich. Solange jedoch Promoter, Schiedsrichter, Trainer, Champions ausschließlich aus dem Norden kommen, sind praktisch alle Schläge erlaubt.
Psychotheater. – Die Figuren haben kein Unterbewußtsein – sie sagen absolut alles. Also müßten sie eigentlich geheilt sein. Aber sie reden weiter. Ihre Krankheit ist ihre Geschwätzigkeit.
Ich, das unbekannte Wesen. – Im Buch der Natur kommt das Personalpronomen der 1. Person Singular nicht vor.
Ich gehe davon aus, daß… – Der eigene Standpunkt ist doch immer der springende Punkt bei jeder Argumentation.
Causa finita. – Wenn ein Glaube zur Staatsreligion geworden ist, braucht er keine Berge mehr zu versetzen. Er begnügt sich damit, die Geographen zu verbannen.
Etymo-Logik? Nein, danke. – In der deutschen Sprache gibt es wie in jeder anderen zahlreiche Spuren uralter Gewaltverhältnisse. Zum Beispiel der Knechtungszusammenhang von „hören“, „horchen“, „gehören“, „gehorchen“. Man muss sich gegen das raffinierte Geraune der Vatersprache zur Wehr setzen.
Karriereknick. – Ich habe nie etwas angestellt, darum durfte ich Angestellter werden. Ich habe nie viel vorgestellt, daher durfte ich Vorgesetzter werden. Als ich vieles abstellen wollte, hat man mich abgesetzt.
Verpflichtet zu Lehre und Forschung. – Das dozierende Oxymoron: Wegweiser und Wegsucher zugleich.
Inkognito. – Seine Wahrheitsliebe ging nicht so weit, dass er die Perücke abgelegt hätte. Aber immerhin trug er sie unfrisiert.
Lyrikwettbewerb. – Nachwuchspoeten, um die Gunst der Kritiker und Lektoren buhlend – auf dem literarischen Babystrich.
Keine Loge für Philo-logen. – Es gibt Seilschaften verschiedenster Interessen, aber keine für die Wissenschaft.
Dialektik. – Die meisten Menschen wollen lieber ihre Illusion von Freiheit genießen, statt einsehen zu müssen, daß ihre Freiheit eine Illusion ist.
Kunstmarkt. – „Mache ich Kunst gegen den Strich oder auf dem Strich“, fragt sich der Künstler gewissenhaft. Der Markt der Massengesellschaft ist egalitär genug, um beide Alternativen zu ermöglichen. Denn – es sind keine mehr.
Evaluation. – Das Unwichtigste läßt sich am genauesten messen. – Aber wie stellt man fest, was wichtig ist? – Es ist das, was übrigbleibt, wenn alles gemessen wurde.
Poet als Seismograph. – Im Glück das Erdbeben voraushören, in der Liebeserklärung die Gleichgültigkeit des biologischen Programms vernehmen, in den Zwängen der Alltagsroutine das aggressive Potential der Erlösung entdecken. Darwin, Marx, Freud, Nietzsche – die mythischen Poeten ihrer Epoche.
Letzter Wille. – Der zynische Bankrotteur hinterließ nichts als ein Konto bei einer Schweizer Samenbank. „Um wenigstens meine Gläubigerinnen zu befriedigen…“
In Frankreich gibt es an Bahnübergängen Schilder mit der Warnung: „Attention! Un train peut cacher un autre!“ Auf die Psyche übertragen, lassen sich zahlreiche Analogien bilden. „Achtung, ein kluger Einfall kann eine enorme Dummheit verbergen!“
Ladendiebstahl. – Wer Ladeninhaber bestehlen will, begeht Ladendiebstahl. Wer Kunden bestehlen will, begeht Preiserhöhungen.
Paradigmenwechsel. – „Grundlegend neue und allgemeine Theorie“, verkündete ein philosophischer Leithammel. „Gemeine Theorie“, echoten die Böcke. „Meine Theorie“, bestätigten die Schafe. „Eine Theorie“, blökten die Lämmer.
Alles eine Frage der Routine. – Das Problem, ob Denken ohne Sprache möglich sei, ist immer noch umstritten. Dagegen wird die Tatsache, daß Sprache ohne Denken durchaus möglich ist, täglich tausendfach bewiesen.
Translatorische Rezeptionsanalyse, target-oriented. – Was ist hohe Literatur? Literatur für höhere Kreise. Was ist niedere Literatur? Lektüre für die Unterschicht. Was ist also Bratwurst? Es ist das, was Bratwurst-Esser essen.
Englische Richter sind der letzte Berufsstand, der noch Perücken tragen darf. Spricht das für oder gegen das Rechtsbewußtsein auf der Insel?
In der Wissenschaft beruht jede Gewißheit der Behauptung auf einer gewissen Ahnungslosigkeit.
Hartnäckige Reue. – Der Versuch, den Ast, auf dem man saß, wieder an den Baum zu sägen.
Zwischen der Ehe und einem Verhältnis besteht ein ähnlicher Unterschied wie zwischen Grammatik und Stilistik. Jene handelt von den Pflichten, diese von den Freiheiten, jene von der Norm, diese von den Abweichungen. Ohne jene wären diese nicht möglich.
Perücke auf der Zunge. – Der Schönredner frisiert seinen Atem mit verbalen Dauerwellen, charmanten Intonationssträhnen und Schmachtlöckchen schmeichelnden Adressatenbezugs. Für den Erfolg braucht er allerdings gedankenlose Zuhörer.
Immer der Nase nach. – „Wie kommen Sie bloß auf so verrückte Gedanken?“ – „Ich gehe ihnen nicht aus dem Weg.“
Variante zu Friedrich Schlegel, Fragment 12. – „In dem, was man Sprachwissenschaft nennt, fehlt gewöhnlich eines von beiden: Entweder die Wissenschaft oder die Sprache.“
Reservatio mentalis. – Das ehrlichste Mitleid ist doch das Selbstmitleid. Es ist der Zwilling der Schadenfreude.
Mauer und Scheidung. – Seit dem Erfolg der Familienzusammenführung und der deutschen Wiedervereinigung steigt die Scheidungsrate unaufhaltsam.
Aphorismus. – Das Stoßgebet des Atheisten. Der Geistesblitz, der eine fromme Illusion erschlägt.
Homo scribens. – Alles Geschriebene ist Teil eines jahrtausendelangen Fortsetzungsromans: Keine Pointe, die nicht verwässert, kein Quark, der nicht stark gemacht würde. Der Turm von Babel besteht aus Büchern.
Eros und Euros. – Die Einigung Europas hat eine ungeheure Komplizierung der Bürokratie bewirkt. Relativ problemlos klappt die Einigung Europas bisher nur in Banken und Betten.
Kopiergeräte für jedermann. – Auch das Vorübergehendste erhebt Anspruch auf Unsterblichkeit. Zwischen Dreck und Druck gibt es keinen Unterschied mehr.