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Gott lacht über die menschlichen Schwächen, der Teufel über die menschlichen Stärken.
Rainer KohlmayerKaltblütige Karrierekalkulation. - "Nullen, die hinter mir stehen, verzehnfachen mich. Eine Eins, die vor mir steht, dezimiert mich."
Rainer KohlmayerLieschen Müller hatte die Gürtellinie zum Horizont erklärt. Manche ihrer emanzipierten Töchter bleiben auch heute noch dabei, nur daß sie die Blickrichtung um 180 Grad gewechselt haben.
Rainer KohlmayerHalluzinationen. - Der Junkie war so süchtig, daß er statt "Herein" immer "Heroin" zu hören glaubte.
Rainer KohlmayerWenn man sagt "Ich gehe davon aus, daß" behauptet man eigentlich, daß man, im Gegensatz zu den andern, schon am Ziel war.
Rainer KohlmayerMagritterie. - Wahrheit nagt am Rand der Wirklichkeit. Wirklichkeit nagt am Rand der Wahrheit.
Rainer KohlmayerNuancen der deutschen Sprache. - Mit über setzen bezeichnet man die Fahrt ans andere Ufer, mit über setzen die Hin- und Rückreise.
Rainer KohlmayerBerufserfahrung. - "Bei uns läuft viel in Teamarbeit", verkündet der Chef. "Haben Sie darin Erfahrung?" "O ja", sagt die Neue. "Ich war immer gern intim."
Rainer KohlmayerOscar Wilde: Gewaltiger Körperbau, in dem aber nur der Mund, also die Sprech- und Kauwerkzeuge ungewöhnlich entwickelt waren. Eine Engelszunge in einem Koloß. Daß selbst die Zähne noch miserabel waren - gelb und lang und dünn, - konzentrierte seine Fähigkeiten noch mehr auf den verbalen Charme.
Rainer KohlmayerNaturbusen. - Der junge Goethe schwärmte vom Busen der Natur - im Singular. Der alte Goethe wußte, daß die Natur viele Busen hat.
Rainer KohlmayerPsychiatrie. - Das schlechte Gewissen der Gesellschaft ist zahm und respektabel geworden, seit es einen schönen griechischen Namen bekommen hat.
Rainer KohlmayerTherapeutische Wirkung des Haarewaschens. - Man darf sich ungehemmt die Haare raufen. So erklärt sich auch die emotionale Wertschätzung des Friseurberufs: Sich die Haare raufen lassen!
Rainer KohlmayerHoppla. - Man sagt ungerechterweise genau da "geistesgegenwärtig", wo man "leibesgegenwärtig" sagen sollte.
Rainer KohlmayerDas muß in Fleisch und Blut übergehn. - Jahrelang hatte er brav sein Begriffsheu geschluckt und wiedergekäut. "Jetzt hab ich endlich Examen", muhte er.
Rainer KohlmayerOrientierung. - Wer nach Wahrheit strebt, hat alle gegen sich. Wer zu den Quellen will, muß gegen den Strom schwimmen.
Rainer KohlmayerPerspektive des Pedanten. - "Die Tasten einer einzigen Schreibmaschine genügen, die gesamte Weltliteratur zu produzieren." Ähnlich gehen Linguisten manchmal mit der Literatur um.
Rainer KohlmayerAkademisches Gleichgewicht des Schreckens. - "Ich werde Sie zitieren!" - "Ich Sie auch!"
Rainer KohlmayerTransparenz, fadenscheinig. - Auf dunklen Wegen an die Macht Gekommene plädieren immer sofort für Transparenz. Sie stoßen die Leiter weg, der sie ihren Aufstieg verdanken.
Rainer KohlmayerManche Bestseller ähneln Retortenbabys: Die Elternschaft ist außerordentlich unklar. Aber es steckt viel Aktivität dahinter - und die Bedürftigen stehen Schlange.
Rainer KohlmayerHi[nte]rnprodukte. - In Buchrezensionen ist oft erstaunlich ablehnend von "Hirnprodukten" die Rede. Was hat man bloß gegen das Hirn? Oder ist es ein Druckfehler? (Karl Kraus sprach gelegentlich von "Gehirnfäkalien").
Rainer KohlmayerVorsicht, Einfallgefahr. - Aphorismen sind die ruinöseste Art des Denkens. Sie blockieren Einbahnstraßen und bringen Fassaden ins Wanken.
Rainer KohlmayerSchreibtischtäter. - Er wurde wegen Vorspiegelung richtiger Tatsachen mit einem Schreibverbot belegt.
Rainer KohlmayerDouble. - A und B galten als gute Freunde. Nach dem Tod von A stellte sich jedoch heraus, daß B nichts als die Perücke von A war. Eine Zeitlang wurde der Perückenausweis obligatorisch.
Rainer KohlmayerTabu. - Das sogenannte Selbstverständliche ist die vorlaute Antwort auf Fragen, die man nicht stellen darf.
Rainer KohlmayerPolaroid. - Die Gegenwart dient ausschließlich den zukünftigen Erinnerungen. Das Gedächtnis überrundet das Erlebnis.
Rainer KohlmayerWasserspiele. - Bei Wittgenstein kondensiert so manche "Wolke Philosophie zu einem Tröpfchen Sprachlehre" (PU II, XI). Bei seinen Schülern expandiert so manches Tröpfchen Wittgenstein zu einem akademischen Wasserfall.
Rainer KohlmayerInsektenforscher und Urologen liefern sich seit Jahren einen erbarmungslosen Kampf über die Priorität der Entdeckung der Urinsekten.
Rainer KohlmayerPerückwärts. - Da er die Perücke falsch herum aufgesetzt hatte, verblüffte er die Leute damit, wie schnell er rückwärts laufen konnte. Niemand schien sein wahres Gesicht zu kennen oder zu vermissen.
Rainer KohlmayerNot und Tugend. - Der Moralist macht aus der Tugend eine Not. Der Lehrer macht aus der Tugend eine Note. Der Streber macht aus den Noten eine Tugend.
Rainer KohlmayerSuchen und Finden. - Das Kind findet, ohne zu suchen. Der Jüngling sucht und findet. Der Mann sucht, ohne zu finden. Der Greis vergißt, was er suchen wollte.
Rainer KohlmayerDernier cri. - Die Sensationen begraben einander, jede Neuigkeit ist gleichzeitig eine Beerdigung, ihr Geburtsschrei ist immer zugleich ihr Todesschrei. Die Kultur imitiert dabei den Kreislauf der Natur, aber mit erhöhter Geschwindigkeit.
Rainer KohlmayerStilfigur. - "It's nice to be important, but it's more important to be nice." Eine hübsche Studentin übersetzte: "Es ist schön, wichtig zu sein, aber es ist wichtiger, schön zu sein."
Rainer KohlmayerEine Frage des Standpunkts. - Mancher rühmt sich, er stünde auf den Schultern der Vorfahren, während er in Wirklichkeit der Zukunft auf dem Fuß steht.
Rainer KohlmayerEugenetik. - Seit Beginn der Menschheit betreibt diese ein eugenetisches Programm zur Züchtung des Übermenschen: die ehrgeizige Verbindung von Ehe, Liebe und Kindererziehung.
Rainer Kohlmayer